Edith Neumann: Vor den Bildern: So gesehen
Korrespondenzen und Differenzen, Ähnlichkeiten und Wiederholungen, Faktizität und innere Einbildungskraft, Austauschbarkeit und Verknüpfbarkeit bestimmen das Werk Martin Conraths im Sitzungssaal des Mittnachtbaus. Dabei handelt es sich um einen durch ein Glasdach und drei langgezogene Fensterreihen sehr hellen, lichtdutchfluteten Raum im obersten Stockwerk des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst, von dem aus man den größten Teil der Stuttgarter Innenstadt in einem Rundum-Panorama überblicken kann.
Vor die einzige fensterlose Wand hat Martin Conrath in einer Fluchtlinie angeordnet neun große bemalte Holztafeln geblendet. Auf einem langen schmalen Aluminiumbord sind "vor diesen Bildern" neun (nahezu) kugelförmige Objekte so postiert, dass sie sich genau in der Mitte, also im Schnittpunkt der Diagonalen der hochformatigen Farbflächen befinden. Mit derselben mathematischen Strenge wurden auf den übrigen drei Saalseiten ringförmige Spiegelfolien- Aufkleber auf den 15 querrechteckigen Glasscheiben angebracht. Durch ihre kleinen Öffnungen wird der Blick des Betrachters fokussiert und gezielt auf Teile des Stuttgarter Talkessels, auf einzelne Gebäude im dicht bebauten Stadtkern gelenkt: "Jedes scharf ins Auge gefaßte Ding verliert seinen Namen. Denn der Name und das Wiedererkennen sind Umstände für die Eliminierung der Sache selbst!" (1) Anders ausgedrückt: Martin Conrath stellt mit seiner Rauminstallation die Frage nach dem Standort, nach den verschiedenen Seh- und Sichtweisen und nach der Existenz einer übergreifenden Ordnung und Weltsicht. So wie die Betrachter, selbst immer im Zentrum seiner arbeit stehend, die künstlerische Gestaltung nie vollständig sehen können, nehmen sie in diesem "gläsernen Saal" auch die Stadt nicht zugleich als Ganze wahr. Lediglich durch (Vor-)Wissen, Reflektion und Erinnerung gelingt es das Gesamtbild zu komplettieren. Mit der Wahl eines Standpunktes wird der umherschweifende Blick je nach Fensterlage auf eine bestimmte Richtung konzentriert. Metaphernreich umspielt
hier Martin Conrath die hohe ministeriale Sitzungsrunde: den Ort wichtiger politischer Entscheidungen im Haus.
Doch um die Intention das System des Künstlers vollständig zu verstehen, bedarf es eines retrospektiven Blicks "vor" die Bilder, denn dem scheinbar so leicht eingängigen, ästhetischen erlebnis der Installation ging eine intensive Beschäftigung Conraths mit dem Werk von Philipp Otto Runges voraus. Hans Dieter Huber schreibt in diesem Zusammenhang: "Viele Personen treten heute mit der Vorstellung, durch ästhetische Erfahrung Aufklärung zu erhalten, vor zeitgenössische Kunst. Und genau diese Einstellung oder Erwartungshaltung erweist sich als das entscheidende Hindernis zum Verständnis solcher Kunstwerke, die eher mit den ontologischen Grundlagen der Kunst als mit der Vermittlung spezifischer ästhetischer Inhalte befasst sind." (2)
Kunsttheorie und Farbenlehre der Frühromantik bestimmen die moderne Malerei immer wieder in entscheidendem Maße. Auch das Werk des [
] Arnulf Letto ist nicht ohne Runges Abhandlung über die "Farben-Kugel" (3) rezipierbar. Entsprechend hat Conrath seine ähnlichen, doch keineswegs gleichen "hellgrauen" Wandtafeln zwischen den beiden entgegengesetzten Polen der Rungeschen Farbenkugel den Nichtfarben Schwarz und Weiß durch minimale Beimischungen von Rot, Blau, Gelb und Grün kaum sichtbar abgestuft. Nach Runge finden die Buntfarben ihre Mitte immer im Grauwert, dessen scheinbare Unbestimmbarkeit Conrath hiermit erneut in Frage stellt.
Das Motiv der Kugel wird in der ausgewählten Dingwelt wiederholt. Neben den formvollendeten Artefakten: Glas-, Holz- und Stahlkugel, gleichen sich die dazwischen gereihten oval-elliptischen Naturformen von Kieselstein, Kakteen und Kalebasse optisch an das abstrakte Ideal an. Der Gipsabguss einer Pampelmuse und ein bunter Kinderball brechen die strenge Dialektik ironisch-persiflierend auf.
Darüber hinaus übernimmt Conrath den Gedanken des "vollständigen Weltbildes" und spielt mit den bis ins Mittelalter zurückreichenden Vorstellungen von Planetenbeziehungen. Analog zur langen Flucht der Kugeln auf den Zaunpfählen in Runges Gemälde "Die Hülsenbeckschen Kinder" aus dem Jahr 1805/06, die die sieben Planeten im damals bekannten Sonnensystem darstellen (4), ergänzt Conrath im Mittnachtbau die Reihe der kugelförmigen Himmelskörper durch die beiden 1846 und 1930 neu entdeckten Planeten Neptun und Pluto zu nunmehr neun Objekten.
Wie häufig im Werk des Künstlers, stellt sich auch hier die Frage nach dem Ganzen und seinen Teilen, konstituieren sich seine komplexen Rauminstallationen aus einzelnen Werkgruppen, die durchaus Eigendynamik entfalten können, haben die Elemente nicht nur eine Erklärung. Martin Conrath faßt dies so zusammen: "Ich mache Systeme: das heißt, ich konstruiere Netzwerke logischer und analogischer Beziehungen von Dingen untereinander." (5)
© Edith Neumann, in: Kunst an Bauten in Baden-Württemberg 1980-1995, Ostfildern 1995, S. 206f.
(1) Paul Valéry, zitiert nach: MC Analoge Systeme, Arbeiten 1986-89, Galerie der Stadt Langenfeld, Rathaus vom 10. Mai bis 1. Juni 1989, Langenfeld 1989, S. 2
(2) Hans Dieter Huber, in: Die Unschärfebeziehung zwischen Kunstwerk und Betrachter, MC (Anm. 1), S.6
(3) Philipp Otto Runges Abhandlung: "Farben-Kugel oder Construktion des Verhältnisses aller Mischungen der Farben zueinander und ihre vollständige Affinität mit angehängtem Versuch einer Anleitung der Harmonie in den Zusammenstellungen der Farben" erschien 1810 bei Perthes in Hamburg. Seine erste Fassung ging als Fragment 1806 an Johann Wolfgang von Goethe, der sie in seiner Farbenlehre zitiert.
(4) Besonders zwischen der Philosophie Runges und dem Pantheismus des schlesischen Mystikers Jakob Böhme (1575-1624) bestand eine enge Beziehung. Vgl. hierzu: Jörg Traeger, Philipp Otto Runge oder die Geburt einer neuen Kunst, München 1977. Außerdem Karl Möseneder, Philipp Otto Runge und Jakob Böhme, Marburger Ostforschung, Bd. 38, Marburg 1981.
(5) Martin Conrath, zitiert nach: Martin Conrath, Doppelte Kontingenz, in: Badischer Kunstverein Karlsruhe (Hg.), Kontexte, Karlsruhe 1990/1993, o.S.